Kafka hat sein eigenes Werk als literarische Deponie inszeniert, nämlich weil er um Verbrennung seiner Fragmente bat, und weil er sie nicht wirklich verbrennen wollte, denn die Wahrheit lag eben dort, wo das Gegenteil gemeint wurde. Der auf Kafka bezogene Begriff ‚Deponie‘ soll also weder im konkreten noch wörtlichen Sinne verstanden werden; vielmehr soll er als Antiarchiv, das heißt als ein ins Negative gewendetes Bild gemeint sein. Zudem bedient sich Kafka der Praxis des Deponierens für sein Erzählen, sodass bei ihm das Deponieren zum ästhetischen Verfahren wird. Dabei gewinnt der Begriff des Recycelns an Bedeutung: Literarisches Material (in Bruchstücke zerfallen), das der Autor als für die Verbrennung bestimmten Müll inszeniert, wird stattdessen gespeichert, archiviert, betitelt – wie Max Brod es tat –, veröffentlicht (und somit gerettet, wenn man den Akt des Veröffentlichens als Rettung verstehen will) und schließlich durch Rezeption recycelt. Darüber hinaus wird das literarische Material zur Schaffung von etwas Neuem Wiederverwendet, wie es normalerweise in der Kunst und mittels intertextueller Bezüge in der Literatur üblich ist. Yoko Tawada als eine wichtige Leserin von Kafkas Werk zählt zu jenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern der Nachwelt, die Kafkas thematische und stilistische Merkmale, vor allem die Abfall-Problematik, aufgegriffen und in einer ökokritischen Perspektive aktualisiert haben.

"Abfälle in das eigene Bewusstsein zurücknehmen". Entsorgen und Recyceln bei Franz Kafka und Yoko Tawada

Silvia Ulrich
2020-01-01

Abstract

Kafka hat sein eigenes Werk als literarische Deponie inszeniert, nämlich weil er um Verbrennung seiner Fragmente bat, und weil er sie nicht wirklich verbrennen wollte, denn die Wahrheit lag eben dort, wo das Gegenteil gemeint wurde. Der auf Kafka bezogene Begriff ‚Deponie‘ soll also weder im konkreten noch wörtlichen Sinne verstanden werden; vielmehr soll er als Antiarchiv, das heißt als ein ins Negative gewendetes Bild gemeint sein. Zudem bedient sich Kafka der Praxis des Deponierens für sein Erzählen, sodass bei ihm das Deponieren zum ästhetischen Verfahren wird. Dabei gewinnt der Begriff des Recycelns an Bedeutung: Literarisches Material (in Bruchstücke zerfallen), das der Autor als für die Verbrennung bestimmten Müll inszeniert, wird stattdessen gespeichert, archiviert, betitelt – wie Max Brod es tat –, veröffentlicht (und somit gerettet, wenn man den Akt des Veröffentlichens als Rettung verstehen will) und schließlich durch Rezeption recycelt. Darüber hinaus wird das literarische Material zur Schaffung von etwas Neuem Wiederverwendet, wie es normalerweise in der Kunst und mittels intertextueller Bezüge in der Literatur üblich ist. Yoko Tawada als eine wichtige Leserin von Kafkas Werk zählt zu jenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern der Nachwelt, die Kafkas thematische und stilistische Merkmale, vor allem die Abfall-Problematik, aufgegriffen und in einer ökokritischen Perspektive aktualisiert haben.
2020
Narrative der Deponie
Springer VS
205
221
9783658278793
Deponie, Textverfahren, populäres Sachbuch, Müll-Diskurs, Strukturalismus, Müllwissenschaft, Discard Studies.
Silvia Ulrich
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